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DIE ARME VERWANDTE

Ich kannte Sie schon lange. Liebte Sie. Sehr sogar. Träumte davon, Sie zu heiraten. Doch ich heiratete Sie nicht. "Die ist arm und passt nicht zu dir", sagte Mutter. Und ich hörte auf sie. Sie fanden eine reichere für mich. Eine, die besser passte. Allerdings war Sie eine Verwandte meiner Frau. Eine entfernte Verwandte. Ich musste so tun, als hätte ich Sie früher nicht gekannt. Um meine reiche Frau nicht zu kränken. So wurde Sie auch meine arme Verwandte. Wir begegneten uns gelegentlich auf Familienfeiern. Grüßten uns. Meine Frau sah mich dabei streng an, als habe ich etwas verbrochen. Und ich begann vor Verlegenheit heftig zu kauen und wie ein Papagei zu wiederholen: "Wie lecker hier alles schmeckt."
Ganz allmählich wurde das zu einer Gewohnheit. Ich nahm zu. Ich verwandelte mich von einem dürren Jüngling in einen rechtschaffenen Mann. Und auf Familienfeiern vergaß ich sogar, Sie zu grüßen, unsere arme Verwandte.
Und dann kam es wie ein Blitz aus heiterem Himmel. "Tanja ist gestorben", verkündete mir meine Frau und sah mich dabei streng an. Ich erbleichte und mein Herz krampfte sich zusammen. Doch ich ließ mir nichts anmerken und fragte bloß: "Wen meinst du, unsere arme Verwandte?" Und beim Leichenschmaus kaute ich nur heftig und wiederholte immerfort: "Wie lecker hier alles schmeckt."


Übersetzung von: Kai Zimmermann - Übersetzungen & Dolmetschen
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